Sonntag, 15. Oktober 2006

erbschaft


Ich muss in den letzten Wochen häufig an meine Großmutter denken, die vor vier Jahren verstorben ist. Sie selbst war Ärztin und hat den Krebsbefund nie geöffnet weil sie wohl wusste, was sie erwarten würde. Stattdessen hat sie ihre Ahnung geheim gehalten und ihr letztes Jahr mit Reisen verbracht, bevor sie sich ins Bett gelegt hat, um zu sterben. Mit eiserner Disziplin hat sie ihren Besitz geordnet, Verwandte und Freunde zu sich bestellt um alles zu verteilen. Sie dachte, es würde schnell gehen. Sie hat sich geirrt, ihr Tod hat schlussendlich über 9 Monate gedauert.

Was sie festgehalten hat, war ihr Unwillen, sich bei einigen Menschen zu entschuldigen (zum Beispiel bei meiner Mutter), oder Demut zu zeigen. Ich erinnere mich daran, dass der dünne Faden, der sie in ihrem Körper gehalten hat, fast greifbar war; er bestand aus einer einfachen Entschuldigung und ehrlicher Reue. Ich war unbeschreiblich wütend, weil sie sich so sehr an diesem Faden festhielt. Sie hat jede Hilfe, jeden Beistand abgelehnt. Dabei waren genug Menschen da, die sie auf ihrem Weg begleiten wollten. Sie hatte das seltene Glück, einen Haufen echter Freunde um sich zu haben - ich weiß bis heute nicht, was sie daran gehindert hat, dieses Geschenk auch anzunehmen.

Ich habe ihren Tod nie als schrecklich oder beängstigend empfunden. Ich bin fast geplatzt vor Neugier, wollte bei ihr sein und sie erzählen hören. Ich hatte vor, die verbleibende Zeit mit meiner Großmutter so intensiv wie möglich nutzen und über den Tod zu lernen. Ich habe so oft gehört, wie ähnlich ich ihr sehe, dass ich mich wie sie bewege - ich wollte wissen, wer der Mensch ist, von dem ich so viel geerbt habe. Ich habe versucht, sie zum Sprechen zu bringen und sie ermutigt, zu erzählen; mir ihre Sorgen und Gedanken mitzuteilen - ich wusste, dass sie unter bestialischen Schmerzen und ständiger Übelkeit litt und bis heute bin ich traurig darüber, dass sie niemanden daran teilhaben lassen wollte. Ich war damals noch Kind genug, um ihrem Sterben natürlich zu begegnen - weder ihre Schmerzen, noch ihre extreme Abmagerung, der Medikamentengeruch oder ihr Todeskampf haben mich erschreckt oder angewidert. Wenn ich heute daran denke, mit welcher fast schon penetranten Neugier ich sie bearbeitet habe, muss ich lachen. Ich bin erstaunt, dass sie so viel Kraft entgegen bringen konnte, um meiner trickreichen Ungeduld den Riegel vorzuschieben.

Schlussendlich hat sie doch losgelassen. Ich habe mich die längste Zeit gefühlt wie ein kleines Mädchen am Bahnsteig, das verzweifelt darauf wartet, dass ihr ein geliebter Mensch ein letztes Mal aus dem abfahrenden Zug zuwinkt. Die Nachricht von ihrem Tod war zugleich erleichternd und niederschmetternd. Ich war unsicher, ob ich ihre Leiche sehen wollte, aber schließlich hat die Hoffnung auf ein Zeichen und Abschied gesiegt: ich bin zu ihr gegangen.
Einen menschlichen Körper nicht klopfen, pochen und arbeiten zu sehen, war für mich zutiefst berührend und eine schöne Erfahrung, weil ich seitdem keinen Zweifel mehr daran hege, dass es die menschliche Seele gibt. Ich habe sie davonfliegen gesehen, ich habe mich von meiner Großmutter verabschieden können.

Trotzdem - ein wichtiger Schlüssel zu mir selbst ist mir unwiederbringlich verloren gegangen. Ich weiß natürlich, dass ich nicht sie bin - aber ich glaube, dass wir als Menschen mehr von unseren Eltern und Großeltern erben, als nur unser Aussehen. Die Sehnsucht zu wissen, auf wessen Mist man gewachsen ist, gehört wahrscheinlich zu den grundlegendsten menschlichen Regungen.

6 Kommentare:

sam hat gesagt…

Mensch, Du schreibst so ein wunderbares Blog und fast keiner kommentiert hier :(

Warum ich das so selten mache:
Deine Beiträge sind meistens so rund und füllig und in sich geschlossen, dass meinem Plappermaul nur das andächtige (?) Schweigen bleibt.

Wollte ich hier mal losgweworden sein, bevor Du Dich zu fragen beginnst, ob Du eigentlich Perlen vor die Säue wirfst.
Obwohl_ ich traus Dir durchaus zu, Dass Du recht absichtslos bloggst!

Späte Grüsse
Sam aus dem Flussnebelreissen

artemis hat gesagt…

Liebe Sam,
ich freue mich immer sehr über Kommentare! Aber auch wenn die recht selten in meinem Postkastel landen, seh ich doch, dass hier ein paar Leute mitlesen :) Ich wüsste allerdings auch nicht, was ich zu mir selbst schreiben sollte? Mein Vater hat sich immer über meinen Tick beschwert, andere unter allen Umständen immer sprachlos zurücklassen zu wollen. Hier in meinem Blog kann wenigstens jeder selber entscheiden, ob er von mir mundtot gemacht werden will. Im "echten" Leben spiel ich nämlich gerne Eisenbahn *lach*

Es freut mich wirklich, wenn du und meine Leser gerne hier vorbeischauen und ein bisschen mitlesen, das will ich nicht abstreiten! Und ich finde es spannend, für Unbekannte zu schreiben. Es soll aber niemand das Gefühl haben, etwas Einfallsreiches oder Kluges zu den Beiträgen kommentieren zu müssen. Klar lebt Bloggen vom Austausch, aber wie gesagt, ich sehe, dass ich gelesen werde und das genügt. Soll sich niemand was aus der Nase ziehen müssen, bei keinem Blog - auch wenn manche Blogger ganz vorwurfsvolle "Kommentiert doch bitte!"-Beiträge schreiben. Sowas ist doch bescheuert!

Ich ertappe mich gelegentlich beim Kommentarschreiben dabei, dass ich nicht wirklich weiß, wie ich meine Gedanken formulieren soll und ob sie wirklich zum Beitrag passen. Dann warte ich ein bisschen. Und manchmal ists nach ein paar Tagen in meinem Hirn so klar, dass es nicht mehr als Kommentar gepostet werden muss. Das tut mir dann schon Leid für die, die niemals erfahren werden, wie sehr mich ihr Beiträg zum Nachdenken gebracht hat - aber ich gehe davon aus, dass es vielleicht auch in meinem so Blogger geschieht.

Liebe Grüße - an alle da draußen :)

artemis hat gesagt…

*lach*
und noch ein grund warum ich selbst auch selten kommentiere: man kann die kommentare einfach nicht mehr editieren, selbst wenn sie (wie mein obiger) vor fehlern nur so strotzen sollten...

auweh.

sam hat gesagt…

Eiso-
ich find "Beiträg" z.B. klingt so nett, so schwedisch, könnt glatt ein Tablett von Ikea sein.

Und der letzte Teil Deines letzten Satzes hat mich- jawohl!- durchaus Nachdenken zum gebracht.

:) Sam

MyM hat gesagt…

hi ich bin gerade über deinen blog gestolpert und mich hat deine geschichte über die oma sehr angesprochen, mein verhältnis zum tod ist ganz anders. er fasziniert mich zwar aber meistens kam er so plötzlich, das es mir wirklich angst macht und einmal musste ich dabei sein als mein hund eingeschläfert wurde und obwohl er so krank war.. fühle ich mich immernoch irgendwie wie ein mittäter. ich glaube auch an die seele und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen macht ein leerer körper mir angst. deswegen danke für einen blick auf die andere seite :) lg my

artemis hat gesagt…

Hallo my,
als unser Kaninchen eingeschläfert wurde, hat mich auch monatelang das schlechte Gewissen geplagt (ich hatte ständig Träume, in denen er mich vorwursvoll aus blutunterlaufenen Augen anstarrte)...
Und ich wollte seinen toten Körper auch nicht sehen - es kam zu plötzlich.

Bei meiner Oma war das anders, es hat ein halbes Jahr lang gedauert, bis sie gestorben ist. Ich war vom Anfang dieses Weges an dabei und ich hätte nicht abschließen können, wenn ich nicht die Gewissheit gehabt hätte, dass sie tot und ihr Körper leer ist. Ich hätte vielleicht nie wirklich begriffen, dass es vorbei ist. Die Endgültigkeit ihres Todes zu sehen, war erleichternd.

lg, Artemis