Sonntag, 29. April 2007

nachtrag zum bauch

Nachtrag zum vorigen Post:

Ich hab mir vor kurzem die Doku "thin" angesehen (gibt's auf YouTube in mehreren Teilen). Das Ganze spielt sich in einer Klinik für essgestörte Frauen ab, in diesem Fall ess-brech-süchtig, hungernd usw. Hab mir das angesehen, weil ich wissen wollte, wie Profis an Essstörungen und das damit verbundene Körperbild herangehen.

Ich habe den gesamten Aufbau dieser "Therapie" aber als so verkehrt und falsch empfunden, so am Problem vorbei, dass ich fast schon lachen musste. Für mich war relativ schnell klar, dass keines der Mädels da "geheilt" wieder rauskommt, und tatsächlich hingen diejenigen, die nach der Entlassung dokumentarisch begleitet wurden, kurz danach wieder über der Muschel, nahmen rapide ab usw.

Schafe essen sich rund

Grundsätzlich sind Essstörungen eine vollkommen selbstbezogene, egozentrische Krankheit, gekoppelt mit wenig bis gar keinem Selbstgefühl. Die Welt besteht nur aus dem eigenen Bauchnabel, den Schenkeln oder sonstigen Problemzonen; bzw. dehnt sich die Bedeutung dieser Zonen so weit aus, bis sie die ganze Welt auszufüllen scheinen. Nichts anderes kann dann noch wichtig sein, und gleichzeitig hängt das ganze Lebensglück eines Menschen dann von diesen Teilen ab.

Die Klinik die in der Doku gezeigt wurde, bot (so schien's mir) vorwiegend Gesprächstherapie an, in Gruppen oder allein; es gab klarerweise strikte Verbote (kein Sport, kein Kotzen, kein Rauchen, kein Essenverstecken, keine Abnehmmittel usw. usf.), Zimmerdurchsuchungen, und dergleichen.
Es schien mir so, als würde sich alles nur noch stärker um die Probleme jeder einzelnen drehen. Die Aufmerksamkeit zog sich also immer weiter in konzentrischen Kreisen auf den Bauchnabel der Frauen zusammen - an einer Stelle, an der meiner Ansicht nach die Öffnung und Erfahrung der Welt außerhalb und um diesen Bauchnabel so viel heilsamer sein könnte.

Gockel aalen sich in der Sonne

Ich wäre wirklich interessiert an der Meinung einer, die sich vielleicht selbst schon in so einer Therapie befunden hat, oder noch befindet. Das Unaussprechliche aussprechen zu lernen, ist bestimmt ein wichtiger Teil der Heilung. Aber Worte ersetzen nicht die leibliche Erfahung. Ich hätte diese Frauen liebend gerne hinaus geschickt, zum Gärtnern, in Kindergärten, in gemeinnützige Einrichtungen, was weiß ich! Um ihr Weltbild zu öffnen, Geben und Nehmen zu erfahren, natürlichen Lebenszyklen wieder folgen zu lernen, und um ihnen Schönheit vor Augen zu führen, die vom Umfang des Bauchs völlig unabhängig ist.

Und um Himmels Willen - warum haben sie den Sport gestrichen? Wenn eine ihren Körper beständig aushungert, taubfrisst oder sonstwie totstellt (sogar mit übermässigem Sport), ist doch nichts wichtiger, als die eigene Haut wieder ausfüllen zu lernen, in wohliger, sanfter Bewegung, die kein anderes Ziel kennt als genau dieses Spüren?
Dieses stundenlange Reden hat mich so wahnsinnig gemacht - Sprache ist der tiefen Erfahrung und dem echten Lernen so hinderlich...

Kinder zeigen ihr wahres Ich

Befinde mich gerade selbst im ca. 4231sten Anlauf, mein Blickfeld endlich von diesem übermächtigen Bauch zu befreien. Ohne Zwang und Reißen, aber doch mit einer gewissen Bestimmtheit. Sam schreibt, dass es keinen Grund gibt, Dinge hinzunehmen, die wir nicht mögen - das stimmt. Aus diesem Grund habe ich vor ca. einem halben Jahr meine bis dahin unregelmäßige Yogapraxis radikal ins Zentrum gerückt, und bin seither beinah jeden Tag auf der Matte. Ich schwitze und atme mit größtem Genuss, könnte mittlerweile eine ganze Sau essen jeden Tag, fülle meinen Körper aus, kann im Augenblick bleiben, besitze so viel Disziplin, Körperweisheit, Standvermögen und Kraft, dass ich vor Freude platzen möchte. Das allerschönste ist, dass ich mir das alles selbst erarbeitet hab.
Und das ist der beste Beweis dafür, dass Minderwertigkeitsgefühle nichts mit der Realität zu tun haben - meinen Bauch find ich nämlich des öfteren noch beschämend formlos, madig und ekelerregend.

Das Schöne ist, dass ich beim Yoga den wahren Kern meiner Mitte erfahren durfte; wie sie meinen Körper zentriert, stabilisiert, wärmt und verwandelt. Sogar ohne all dies ist mein Bauch eine wunderbare Einrichtung, in der es sich gut zurücklehnen lässt. Das war wichtig für mich: den tieferen Sinn dieser Mitte zu erleben, wozu sie wirklich da ist (nicht zum Trimmen, Beschneiden, Verkleinern).

Die Reise geht weiter...

*°*°*°

Die Bilder stammen aus St. Hansgården in Lund. Ein Ort, an dem Tiere umweltfreundlich gehalten werden - alle Gebäude sind aus recycelten, abgerissenen Häusern, Strom kommt aus eigener Windturbine und Solarzellen und der Gemüseanbau erfolgt in Permakultur ("dauerhafte/nachhaltige Landwirtschaft"). Der große Garten befindet sich in einem Einwandererviertel mit relativ hoher Arbeitslosigkeit. Nach der Schule kommen die Kinder um zu spielen, zu helfen, und die Basis nachhaltiger Landwirtschaft zu erlernen. Schulen organisieren Lehrausflüge. Studenten und Freiwillige arbeiten ebenfalls dort. Die Auswirkungen sind überraschend: Kinder wollen kein Fleisch mehr essen, oder die Familie steigt auf hochwertigere Lebensmittel um, weil die anderen den Kindern "nicht so gut schmecken wie in Hansgården!"

Montag, 23. April 2007

Die Untoten - Teil 2

In der Mitte meines Körpers trage ich ein Schlachtfeld mit mir herum; es ist weich, weiß, hat Rundungen und zeigt nach außen keine Spuren der Verwüstung. Der Kampf muss in einer Zeit eröffnet worden sein, an die ich mich nicht erinnern kann, und aus diesem Alter bezieht er seine Daseinsberechtigung.

Der Konflikt hatte mehrere Phasen,
eine, in der ich ihm devot ergeben war,
eine, in der ich ihn zu hinterfragen begann,
eine, in der ich mittendrin stand und nicht wusste, was tun.

Aus Phase Eins bleiben Erinnerungen an wilde Scham vor der teigigen, breiigen Masse in meiner Mitte, Abscheu, Ekel, kochende Wut auf diese Entstellung. Der Spiegel, der eiskalt und nüchtern die 'Wirklichkeit' abbildet: eine Made, ähnlich denen, die sich ganz unten im Komposthaufen verkriechen - der Fuß möchte schnell zutreten, im Hals steckt ein Würgen. Manchmal bringt ein unbedachter Blick in spiegelnde Flächen die Made zum Vorschein - wie ein sorgloser Griff in den Dünger - Tränen steigen auf, es gibt nur mehr ein Ziel: schnell, schnell, ins sichere Versteck. Fruchtlose Versuche, die Schande abzukratzen, abzuschneiden, abzuschwitzen. Oder sie zumindest für ihre Schändlichkeit zu bestrafen.

Zeugen dieses Deliriums begegnen ihm mit Kopfschütteln oder mit Wut, weil anscheinend nur wirklich dicke und hässliche Mädchen Anrecht auf derartig ausgeprägten Selbsthass haben. Andere versuchen der Angel auszuweichen, von der sie denken, dass ich sie komplimenteheischenderweise ins Wasser halte.


Phase Zwei bringt die leise Ahnung, dass vielleicht in meinem Kopf was falsch ist, nicht mit meinem Bauch. Trotzdem, die Serie der mießlichen Lagen, in die er mich bringt, reißt nicht ab. Irgendwann beginnt sich das Bewusstsein für diese irdische Hölle in mir zu entwickeln, ich sehe meine Verstümmelung und Abstumpfung mit an - Bestrafungen, die ich als vollkommen gerechtfertigt empfand, haben jetzt einen bitteren, traurigen Nachgeschmack.

Phase Drei - mitten im Schlachtfeld und keine Ahnung, wo ich beginnen soll.
Ich sehe, dass ich selbst in völliger Abgeschiedenheit Schwierigkeiten habe, meinen Bauch freizugeben.
Meine Mitte ist abgeschaltet; wenn ich mich einfühle und sie einschalte, schwappen zuallererst Hass, Scham und Ekel über mich, dann Schmerz, dann Trauer. Ich übe, übe, gehe immer wieder hinein - es wird nicht weniger.
Meine Energieversorgung vom Unterbauch abwärts ist gekappt, besonders durch die linke Hüfte lasse ich nichts in die Beine. An schlechten Tagen bringt mich der Spiegel nach wie vor zum Weinen. Eine Berührung am Bauch kann sich anfühlen, als hätte ein Mensch meine beschämendsten Geheimnisse ins grelle Tageslicht gezerrt.

Wenn ich genau hinsehe entdecke ich unter all dem meinen wahren Bauch, ein zertrampeltes Etwas, seit meiner Kindheit von mir eigenhändig weggesperrt, abgeschnürt, abgeschoben. Es führt sein Leben im Dunkeln, ganz unbemerkt, holt sich was es braucht über Umwege, kriegt dafür zwar wieder eine drüber, ist aber zäh. Selbstmitleid kenne ich, aber Selbstmitgefühl für meinen Körper zu entwickeln, ist eine überraschend schwierige Aufgabe.

Ich bin zuversichtlich - das Bewusstsein öffnet sich nicht für Dinge, die es zu verdauen noch nicht bereit wäre. Ich würde meinen Bauch nicht hören, hätte ich nicht zur gleichen Zeit auch die Mittel, mir selbst zu helfen.

Aber ein paar Worte an die, die vielleicht schon einmal mit Ähnlichem konfrontiert wurden (ich denke, die Wahrscheinlichkeit dafür ist stetig steigend...):

Immer wieder bin ich der Aussage begegnet, dass gerade die Frauen "die es nicht nötig haben" unter ihrem ramponierten Selbstbild leiden. Darin schwingt die Annahme mit, dass es sehr wohl Menschen gibt, die allen Grund zu Selbsthass und Selbstbestrafung haben, und darin (und in nichts anderem) liegt das wahre Problem.

Zahllos waren die Versuche, mich mit Auflistungen meiner Schönheiten und Tugenden wieder aufzurichten. Es ist natürlich äußerst verwunderlich, wie sich ein zweifelsohne intelligenter Mensch manchmal für hoffnungslos blödsinnig halten kann, wie sich ein offensichtlich grünes Ding für rot hält, oder ein Normalgesichtiger für entstellt. Wir hoffen, dass wir durch ein blosses Auflisten der Intelligenz/Grünheit/Normalheit die Dinge wieder einrenken können, und übersehen, dass es sich für den jeweiligen Menschen um eine Wahrheit handelt, die schwer wegzuargumentieren ist. Im Gegenteil lernt das Hirn sogar, mit beiden Seiten zu leben, es richtet Parallelwelten ein, eine, in der es tatsächlich seinen liebenswerten, "normalen" Charakter erkennt, und eine, in der nichts anderes als Abscheu verdient. Das ist für Betroffene und Freunde gleichermaßen frustrierend, denn beide (!) Seiten wissen, dass der Kampf "nur" im Kopf entsteht und nicht echt ist. Oft tut es aber schon gut, den Hass auszusprechen und auszuspucken, ohne gleich ein kopfschüttelndes: "Ja, aber, du bist doch so..." zu hören.

Ich halte es außerdem für hilfreich, die Natur des Leidens erkunden zu helfen, und beobachten zu lernen, WAS es in einem Menschen verursacht, anstatt es blindlings als Hirngespinst zu erklären. Die meisten Probleme entstehen im Kopf und sind Folgen einer Wahrnehmung die nicht aus den Wahrheiten der Einheit und der Liebe entspringt. Aber nur weil sie in diesem Sinne falsch sind, sind sie nicht minder ernst zu nehmend, gefährlich und schmerzvoll.

Freitag, 13. April 2007

atmosphäre


Aus Geldmangel ging es zu Ostern "nur" für ein paar Tage über den Öresund - und obwohl Nordost-Dänemark und Südschweden eigentlich fast aneinander liegen, war es wie in einer anderen Welt...



Das Schloss Fredensborg (im Frühling und Herbst Residenz der Königlichen) und der Park lagen am Ostersonntag ganz un-auferstehlich wie eine lebendige Kontemplation zur Vergänglichkeit da. Alles ganz still - trotz dem Regen - , bröselnde Farben, Pfützen unter den Statuen...


Hat mich an den letzten Post erinnert, zur Schriftstellerei, und die Kommentare dazu. Donna Leon, die ist doch so berühmt für ihre Venedig-Atmosphäre - warum eigentlich?, fragte ich mich nach dem Lesen. Nachdem sie selbst dort lebt, drängte sich die Frage auf, ob vielleicht die Mehrzahl ihrer Leser Venedig nur von der Landkarte kennt? Vielleicht findet Donna ihre Zeilen nicht einmal besonders "venezianisch"?

"Atmosphäre", das ist wieder so ein amüsanter Kopf-Zerzwirbler. Ich fand Liebe in Zeiten der Cholera atmosphärisch, oder die Virgin Suicides, oder Die Toten Seelen... Trotzdem fragt sich, wessen Atmosphäre da aus den Buchseiten in mein Hirn aufgestiegen ist - die des Autors? Meine? Unsere?

Würde ich einem Autor ein Bild meiner Vorstellung malen, wie überrascht wäre er von dieser Welt, die durch seine Worte ins Leben gerufen wurde? Würde er nicht vielleicht gerne Hand anlegen, zur Korrektur? Ist das nicht überhaupt eine uralte Furcht der Schreiber, dass die Leserhirne mit ihren Ideen machen was sie wollen?

Ich meine diesen Einwurf überhaupt nicht so hochtrabend wie er vielleicht daherkommt - wir haben ja eine heilige Ehrfurcht davor, z.B. im Museum etwas anzugrapschen (würden aber gern), und wir sind froh darum, dass unsere Kunstwerke so gut vor feuchten Händen und schwingenden Rucksäcken beschützt sind.

Aber was ist mit den Büchern? Wie sorgfältig lernen wir da, den Absichten des Schaffenden zu folgen? Ist das überhaupt wünschenswert? So ein bisschen Freiraum tut doch auch wieder gut, manchmal. Wer kann denn überhaupt behaupten, er hätte die 500 Seiten verstanden, durch die er sich grade gelesen hat?


Hab mich mit meinem Museums-Beispiel grade selbst ins Aus geschossen, stelle ich fest - denn natürlich sind Kunstwerke generell genauso unsicher vor den Betrachterhirnen wie Bücher. Es braucht nicht einmal Kunstwerke oder fremde Betrachter: wenn ich mir zum Beispiel meine Fotos hier ansehe, scheint mir plötzlich alles viel trauriger, als ich es an diesem Tag tatsächlich erlebt habe.

Anderer Einwurf: hat vielleicht jemand die (ich muss gestehen irgendwie lustige) Diskussion zu den erloschenen Augen von Ingrids Sohn auf ihrem Blog mitverfolgt? Sie postete da ein Bild von ihrem Sohn, die Tochter auf den Schultern, mit etwas entleertem Blick. Dieser wäre mir, ich gestehe schon wieder, nicht weiter aufgefallen, hätte nicht eine Kommentatorin ihn als erloschen bezeichnet (der Zusammenhang ist mir entfallen, aber es war kritisierend/aufrüttelnd gemeint).
Daraufhin entbrannte eine heftige Diskussion, Ingrid erklärte, sie hätte ihren Sohn gebeten, "normal" zu schauen, was er prompt übertreiben musste. Erstaunlich fand ich die Spannweite der Interpretationen zu diesem Foto: müde, erloschen, tot, nicht weiter erwähnenswert...


Und noch etwas Überraschendes: stand an diesem Osterwochen-Ende an einem Ort, an dem ich nie zuvor gewesen bin, von dem ich aber genau so geträumt hatte (inklusive der Gebäude, der Geräuschkulisse und allem drum und dran).
Dieser Traum, nach wie vor einer der schönsten und bedeutungsvollsten meines geschlafenen Lebens, hat mich endgültig davon überzeugt, nach Schweden zu gehen. Er war stimmungsvoll (atmosphärisch, eben), voll Licht und Luft, befreiend - so ähnlich wie ein tiefer Atemzug neben Gipfelkreuz mit Blick ins Tal, obwohl alles nicht im Traum enthalten.

Ich war dann eigentlich nur überrascht von meiner Nicht-Überraschung. Aha, achso, ja, das ist ganz genau wie in meinem Traum... Sehr schön! Gut! Und jetzt bitte weiter, ich bin hungrig.