Donnerstag, 22. November 2007

jessas maria, wos hot an jetz scho wieda taun?!

Angeregt von Luisas Eintrag zu Kinderspielen stieg heute in mir die Erinnerung an das wohl seltsamste Spiel meiner gesamten Kindheit auf. Bis ich etwa 13 bin gibt es bei uns keinen Fernseher und zu meinem Leidwesen auch keine Computerspiele oder Gameboys, sondern nur gutes altes Spielzeug. Davon aber reichlich. Außerdem sind mein Bruder und ich begeisterte Schauspieler. Weil wir beide nicht viel auf andere Kinder halten und damit auch die Klassifizierung von Spielzeug und Spielen nach Geschlecht nicht erlernt haben, spielen wir beide mit Puppen und Autos, und finden es auch nicht befremdlich, uns gegenseitig Schnurrbärte oder rote Wangen zu malen. Jeden Samstag oder Sonntag steht vormittags das Folgende auf dem Programm:
Mein Bruder ist eine grantige alte Frau und wohnt im ersten Stock eines Hochhauses (= oberes Etage des Stockbetts). Ich bin auch eine grantige alte Frau und wohne im Stock darunter. Jedes Wochenende läutet die eine bei der anderen am Plastiktelefon an und lädt sie zum Kaffee ein. Meistens muss ich meine Nachbarin einladen, weil sie Angst hat, dass ihre Wohnung im ersten Stock zusammenbricht, wenn wir gemeinsam dort hocken. Ich schimpfe ein bisschen, weil ich auf die gute Aussicht nicht verzichten will und außerdem insgeheim darauf hoffe, meiner Nachbarin die gute Wohnung abzuluchsen. Die ist aber immer schlauer als ich und am Ende serviere ich ihr Kaffee aus meinem Puppengeschirr in meiner Wohnung, und es geht los. Das Gesprächsthema ist immer das gleiche: der Mondo. Der Mondo, das ist ein kleiner Bub, der ebenfalls im Hochhaus wohnt. [Es bleibt rätselhaft, wie er zu seinem Namen gekommen ist - ich vermute eine Verwandtschaft mit dem (nicht ganz harmlosen) Schimpfwort "Mongo"; Idiot, beschränkter Mensch.] Der Mondo ist aber keinesfalls ein Depp. Er ist ein kindlicher Revoluzzer und Vandale, den wir, die alten Damen, fürchten und verachten. Jeden Sonntag erzähle ich meiner Nachbarin und sie mir von den neuesten unglaublichen Schandtaten des Mondo. Jessas maria, wos hot an jetz scho wieda taun?! (Jesus und Maria, was hat er denn jetzt schon wieder getan?!), schreien wir und heben die Arme gen Himmel, unsere Altweiberköpfe wackeln und wir fühlen uns plötzlich sehr alt.
Bei der Nachbarin aus dem 3. Stock ist er einfach in die Wohnung gestürmt und den Fernseher aus dem Fenster geschmissen!
Ja, und der anderen Nachbarin hat er den für ihn gebackenen Apfelstrudel einfach wieder in die Schürze gespuckt!
Im Supermarkt hat er sich an der Kassa einfach aufs Fließband gelegt und der Kassiererin ins Gesicht gelacht!
Im Flur hat er Erbsen ausgestreut und der alte Nachbar hat jetzt ein verrissenes Kreuz!
Der Nachbarin hat er das Baby aus der Wiege gestohlen und eine Katze hineingelegt!
Ihrem Sohn hat er die Bettdecke ans Bett geklebt!
Dem Briefträger hat er das Rad angesägt!
Der Gesprächsstoff reicht für eine Stunde und am Ende sind wir beide sehr erschöpft und aufgebracht. Die Nachbarin und ich nicken besorgt, doch würdevoll, schenken einander ein und seufzen über die Kinder von heute. Dann ein Kratzen und Miauen an der Tür - Nein!, schreit meine Nachbarin, nicht öffnen! Das ist ein Trick vom Mondo, der will dir dein Geschirr zerschlagen! Am nächsten Wochenende habe ich an meiner Wohnungstür bereits Ketten montiert.
Wir zerbrechen uns den Kopf über die Zukunft des teuflischen Mondo, dessen Eltern nicht auffindbar sind und der - Gott behüte! - womöglich alleine in einer Wohnung lebt, unter selbst abgezogenen Katzenfellen schläft und nur isst, was sich im Supermarkt in die Taschen stopfen lässt, während alle wegschauen. Und einen Heidenspaß hat er auch noch dabei! Wir würden ja die Polizei anrufen, aber es ist Wochenende, da arbeiten die nicht. Unter der Woche tun das zwar die gepeinigten Nachbarn, aber der Mondo entkommt immer. Dass es ein Jugendamt gibt, wissen wir noch nicht. Wir seufzen und jammern, beklagen die Zeit in der wir leben und die Kinder, die sich nicht ordentlich zu benehmen wissen. Insgeheim sind wir froh, denn in unserer langjährigen nachbarlichen Freundschaft hat sich kein Gesprächsthema als so ergiebig erwiesen wie der Mondo.
Warum der Mondo uns niemals etwas tut, wundert uns sehr. Höchstens ein bisschen Hunde-AA oder nasses Klopapier schiebt er uns manchmal durch den Briefschlitz, aber das ist ja alles kein Drama. Verglichen mit explodierenden Fernsehern, vertauschten Kindern und angesägten Fahrzeugen.
Einige Jahre später eröffnet in unserer Nachbarschaft der erste Mondo, ein Billig-Supermarkt. Das verfolgen mein Bruder und ich natürlich mit Staunen. Wir gehen am Laden vorbei, schütteln unsere runzligen Köpfe und fühlen uns plötzlich sehr alt und müde angesichts dieser verwahrlosten Welt, in der ein Mensch wie Mondo sein eigenes Geschäft bekommt.