Ich muss in den letzten Wochen häufig an meine Großmutter denken, die vor vier Jahren verstorben ist. Sie selbst war Ärztin und hat den Krebsbefund nie geöffnet weil sie wohl wusste, was sie erwarten würde. Stattdessen hat sie ihre Ahnung geheim gehalten und ihr letztes Jahr mit Reisen verbracht, bevor sie sich ins Bett gelegt hat, um zu sterben. Mit eiserner Disziplin hat sie ihren Besitz geordnet, Verwandte und Freunde zu sich bestellt um alles zu verteilen. Sie dachte, es würde schnell gehen. Sie hat sich geirrt, ihr Tod hat schlussendlich über 9 Monate gedauert.
Was sie festgehalten hat, war ihr Unwillen, sich bei einigen Menschen zu entschuldigen (zum Beispiel bei meiner Mutter), oder Demut zu zeigen. Ich erinnere mich daran, dass der dünne Faden, der sie in ihrem Körper gehalten hat, fast greifbar war; er bestand aus einer einfachen Entschuldigung und ehrlicher Reue. Ich war unbeschreiblich wütend, weil sie sich so sehr an diesem Faden festhielt. Sie hat jede Hilfe, jeden Beistand abgelehnt. Dabei waren genug Menschen da, die sie auf ihrem Weg begleiten wollten. Sie hatte das seltene Glück, einen Haufen echter Freunde um sich zu haben - ich weiß bis heute nicht, was sie daran gehindert hat, dieses Geschenk auch anzunehmen.
Ich habe ihren Tod nie als schrecklich oder beängstigend empfunden. Ich bin fast geplatzt vor Neugier, wollte bei ihr sein und sie erzählen hören. Ich hatte vor, die verbleibende Zeit mit meiner Großmutter so intensiv wie möglich nutzen und über den Tod zu lernen. Ich habe so oft gehört, wie ähnlich ich ihr sehe, dass ich mich wie sie bewege - ich wollte wissen, wer der Mensch ist, von dem ich so viel geerbt habe. Ich habe versucht, sie zum Sprechen zu bringen und sie ermutigt, zu erzählen; mir ihre Sorgen und Gedanken mitzuteilen - ich wusste, dass sie unter bestialischen Schmerzen und ständiger Übelkeit litt und bis heute bin ich traurig darüber, dass sie niemanden daran teilhaben lassen wollte. Ich war damals noch Kind genug, um ihrem Sterben natürlich zu begegnen - weder ihre Schmerzen, noch ihre extreme Abmagerung, der Medikamentengeruch oder ihr Todeskampf haben mich erschreckt oder angewidert. Wenn ich heute daran denke, mit welcher fast schon penetranten Neugier ich sie bearbeitet habe, muss ich lachen. Ich bin erstaunt, dass sie so viel Kraft entgegen bringen konnte, um meiner trickreichen Ungeduld den Riegel vorzuschieben.
Schlussendlich hat sie doch losgelassen. Ich habe mich die längste Zeit gefühlt wie ein kleines Mädchen am Bahnsteig, das verzweifelt darauf wartet, dass ihr ein geliebter Mensch ein letztes Mal aus dem abfahrenden Zug zuwinkt. Die Nachricht von ihrem Tod war zugleich erleichternd und niederschmetternd. Ich war unsicher, ob ich ihre Leiche sehen wollte, aber schließlich hat die Hoffnung auf ein Zeichen und Abschied gesiegt: ich bin zu ihr gegangen.
Einen menschlichen Körper nicht klopfen, pochen und arbeiten zu sehen, war für mich zutiefst berührend und eine schöne Erfahrung, weil ich seitdem keinen Zweifel mehr daran hege, dass es die menschliche Seele gibt. Ich habe sie davonfliegen gesehen, ich habe mich von meiner Großmutter verabschieden können.
Trotzdem - ein wichtiger Schlüssel zu mir selbst ist mir unwiederbringlich verloren gegangen. Ich weiß natürlich, dass ich nicht sie bin - aber ich glaube, dass wir als Menschen mehr von unseren Eltern und Großeltern erben, als nur unser Aussehen. Die Sehnsucht zu wissen, auf wessen Mist man gewachsen ist, gehört wahrscheinlich zu den grundlegendsten menschlichen Regungen.