Montag, 7. Juli 2008

wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin? und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.

Die Geschichten, die ich mir gerne über meinen Lebensweg und den anderer erzähle, sind eine Zusammenstellung von Erinnerungsfetzen, Glücksmomenten und Lernvorgängen. Es sind komprimierte Fassungen willkürlich ausgewählter Episoden, jederzeit beliebig neu zusammen zu stecken und neu zu erzählen.

Die Geschichten, die ich mir aus meinen Lebenswanderungen schreibe - was sind sie? Während ich meinen Weg gehe, stellt sich mir die Frage nach Weisheit und Wahrheit. Darüber möchte ich heute schreiben.

Obwohl an diesen Geschichten genauso wenig wirklich "Ich" ist, wie an "meinen" Gefühlen und "meinem" Körper, so sammle ich unterwegs dennoch etwas, das ich Weisheit nennen möchte und das mir manchmal erst im Rückblick - im Erzählen der Geschichte - gänzlich ersichtlich wird.

Gerade noch dachte ich, dass ich die Weisheit aufsammle, entlang des Weges. Aber - vielleicht bin ich keine Wanderin. Vielleicht stehe ich nur da während ich in die Weisheit hineinwachse, sie einatme und immer mehr in ihr ruhe ... wie ein Baum.

Bäume entfalten sich in der Wahrheit ihrer Existenz und der Tatsächlichkeit der Dinge um sie herum. Was sie zu geben haben, ist Weisheit. Ich kann getrost sagen: was immer ein Baum mir erzählt hat wenn ich die Tollkühnheit besaß, ihn zu fragen, war weise und wahr. Ratschläge aus den Baumkronen oder dem Bauch der Erde sind von einer Gewissheit durchströmt, die ihresgleichen sucht.

Und warum gestehen sich Menschen so wenig davon zu?

Vielleicht aus vorausahnender Vorsicht? - kommt einer anmarschiert um triumphierend die Flagge der einzigen und allgemeingültigen Wahrheit zu schwingen, lässt die Nachhut der engen Herzen und Stirnen meist nicht lange auf sich warten. Aber das Gegenteil - die totale Beliebigkeit - scheint mir auch kein Banner zu sein, unter dem es sich gut stehen oder gehen lässt. Um mich deutlich auszudrücken - es geht mir nicht darum, ob Herr X sein Ei lieber mit dem Messer oder dem Löffel aufschlägt. Unter Beliebigkeit verstehe ich, dass mir Lebensgewohnheiten und Denkmuster als "Freiheit" verkauft werden, die Schaden zufügen. Der wiederum wird proper unter den Teppich - pardon, die Flagge - gekehrt.

Das kann mich verrückt machen an dieser Welt; die vorgegaukelte, verlogene Freiheit, alles tun, lassen und denken zu dürfen, was ich will. (Und ich weiß, dass mir 'die Welt' damit nur meine eigene Unsicherheit zuspielt...) Der natürliche Drang nach Glück und persönlicher Befreiung wird in gut anzuzapfenden Bahnen begradigt, und hast-du-nicht-gesehen ist der drängende Mensch zur seichte Gewässer entlang schippernden Strohpuppe mutiert. Der daraufhin lernt, das lichterlohe Brennen mit dem Licht persönlicher Aufgeklärtheit zu verwechseln.

Ursprünglich ist dieses Konzept von persönlicher Freiheit ja schön und gut. Ich möchte leben und leben lassen. Ich muss mich nicht über die vermeintliche Kleinkariertheit der einen ärgern, die scheinbare Dummheit der anderen verurteilen und mich dazwischen, während ich im Saft meiner wütenden Dogmatik vor mich hin brate, immer wieder mit Weihrauch besprenkeln. Denn obwohl ich auch das bisweilen fast schon als Sport betreibe (weil es sich so verführerisch anfühlt und Gelegenheiten dazu reichlich nachwachsen, wenn ich es will), ist es nicht gut für mein Herz, meinen Seelenfrieden und meine Entwicklung. Das ist zumindest meine Weisheit. Also, Schuhe geschnürt, und hinauf den Berg der glückseligen Gelassenheit und liebenden Neutralität.

Was ich also gerne können würde, ist ganz und gar, und aus vollem Herzen, jedem Wesen seinen Weg, seine Weisheit und seine Lernaufgaben zugestehen. Mir eingestehen, dass ich nach meiner Wahrheit suchen muss, nach dem was mich nährt und dem was mich unfrei macht. Basta.

Immer wieder aber, wenn ich meine heimelige Klause verlasse und mich gänzlich hinüber in die Welt der Menschen wage (das passiert etwa 4 Mal die Woche), überfällt mich das unangenehme Gefühl, dass die ganze Sache mit dem Wertepluralismus gar nicht der Befreiung dient, sondern der Zementierung von Lebensweg-Geschichten, der Untätigkeit, Gleichgültigkeit und der Verfremdung. Denn neben dem glückseligen Dahinschippern haben wir auch gelernt, einander nicht auf unser Strohpuppen-Dasein anzusprechen. "Jedem Tierchen sein Plaisierchen."

Höchst beeindruckend finde ich da Menschen, die mir gradeheraus sagen können, dass ich schädlich handle und denke; dass die zugrundeliegende Wahrheit des Lebens eine andere ist, als das wonach ich hetze; dass auch ich eine Puppe geworden bin ... und die dabei nicht mit Flaggen wehen müssen. Menschen die sich zugestehen, fehlbar zu sein und dennoch Wahres verbreiten zu können; Menschen, die nicht Recht haben müssen und gerade deshalb recht sprechen. Menschen, die so rein und unverhaftet sind, dass sie die gesamte Skala ihrer Emotionen, Erfahrungen und Talente zu spielen vermögen, um einer tief wurzelnden Lebenswahrheit eine Ausdrucksmöglichkeit zu bieten.

Menschen schließlich, die sich selbst überflügeln, um der Lebendigkeit und Freiheit aller zu dienen.
Titel: Zitat von Kurt Marti

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo artemis,
ich bin sprachlos - glücklich - über das, was ich hier lese.
Bei Ray habe ich Dich gefunden.

Deine spirituelle "Abenteuerlust" erinnert mich an meine eigene.

Du schreibst ...
Eine Furcht davor, der Strom des Lebendigen könnte versiegen, oder davor, den Weg zur Quelle nicht zu finden ...

Auch hier habe ich mich wiedergefunden, ich hatte auch einmal diese Furcht.

Nie wird es passieren, dass der Strom des Lebendigen versiegt.
Du bist Teil der Quelle.
Das ist erfahrbar.

Erspüre den Zustand der Sattheit.
Das bist Du.
Nimm die Fülle an.
Trau dich.

Herzliche Grüße
Barbara

auch http://giocanda.myblog.de

kvinna hat gesagt…

Ich habe diesen Text nun zweimal gelesen. Ich werde ihn noch öfter lesen müssen, um ihn ganz zu erfassen. Aber das hier: "aus vollem Herzen, jedem Wesen seinen Weg, seine Weisheit und seine Lernaufgaben zugestehen" erinnert mich an den Wunsch nach Gelassenheit den Dingen gegenüber, die nicht zu ändern sind, Mut, die Dinge anzufassen, die sich ändern lassen und den Wunsch nach Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.

artemis hat gesagt…

Liebe ahora,

Danke für Deine Worte - es freut mich, dass Du hierher gefunden hast.

Meine Furcht vor dem Versiegen dieser Quelle erweist sich in der jetzigen Phase meines Lebens einmal mehr als mein größter Motor. Sie führt mich auf der Suche nach dem, was niemals versiegen kann und, wie du schreibst, auch ständig gegenwärtig, ein Teil von mir und jederzeit erfahrbar ist.

Vielleicht liegt es auch an der Natur meines Alters, dass ich dränge und stürme und dabei gelegentlich vergesse, dass es im Außen nichts zu finden gibt.

Was du schreibst vom Annehmen der Fülle berührt mich. Es ist eine einfache Weisheit, nichts "Neues" für mich, im Grunde genommen, aber es kommt gerade richtig. Und liefert mir Stoff für neue Einträge :) Hab Dank dafür!

Herzliche Grüße aus einer lauen Sommernacht,
artemis

artemis hat gesagt…

Kvinna,

Meisterin der klaren Ausdrucksweise! :) ja, ja, nochmal ja. Du hast es wieder einmal vollbracht und alles in einem Satz zusammengefasst. Macht nix, ich hatte Spaß am Schreiben und du hoffentlich beim nochmals und nochmals Lesen. Auch dafür Hut ab (wer tut sich in der Flüchtigkeit des Netzes schon solche Beharrlichkeit an...)!

Auch dir herzliche Grüße aus der lauen Sommernacht, in der mittlerweile die Grillen zirpen...

Anonym hat gesagt…

Hallo, artemis, ja glaubst Du, man kann sich in die Ecke zurück ziehen?
keine Chance!!! ;-)
Je mehr man sich seiner selbst bewusst wird, umso lebendiger wird man doch, weil die Angst wegfällt.

***
Ich bin ewig
Teil des Ganzen
Licht ausstrahlend
in mir ruhend
doch
ich gehe, gehe, gehe ...
in mich hinein
über mich hinaus ...
Gott ist endlos

***

by ahora

Kannst Du mal bei ahora meinen letzten Eintrag schauen "Ich hatte eine Erfahrung".
Wenn das Selbst sich erfährt, hat es den Pegel in sich und richtet sich immer nach sich selbst aus. Die Unruhe fällt weg.
Gewissheit.

Ich grüße Dich herzlich

Barbara

Anonym hat gesagt…

Liebe artemis, ich wollte mich auch nur vergewissern, dich richtig verstanden zu haben. Ich hab' mal für die klassenbeste Klausur eine halbe Note weniger bekommen mit dem säuerlichen Vermerk meines Fachlehrers: "ein wenig mehr "Schmuck" wäre zu empfehlen gewesen"; er hat's mir übel genommen, dass ich mich SO kurz gefasst habe. Ist wohl meine Natur.

Müde Grüße!

sam hat gesagt…

Von Dir würd ich gern mal ein Buch lesen.
Ich schau viel zu selten hier vorbei, dabei verteilst Du immer wieder solche Diamanten!

Jetzt werd ich mir mal Dein neues Format ansehn...