Montag, 24. Juli 2006

Mit der Ruhe kommt...

Mein „Fallschirm“ hat sich als Herzensmann entpuppt – ich bin verliebt. Auf die ruhige, unaufgeregte Weise. Es fühlt sich gut an, gesund, richtig. Ich spüre in die Ängste hinein, gehe ein bisschen zurück, versuche es noch einmal, komme ein bisschen weiter als davor. Er gibt mir soviel Raum, soviel Luft. Das sagt er nicht einfach. Ich spüre, dass er in sich ruht, vollkommen. Wenn er mir, sich, uns Zeit und Raum zugesteht, dann spüre ich keine Hintergedanken, keine heimliche Verunsicherung, keine verborgene Forderung, kein faules Tauschgeschäft.

Das gibt mir die Möglichkeit, ganz wahrhaftig zu bleiben. Ich habe Raum zu sehen, wo ich Täuschungen unterliege, welche Erwartungen ich habe, wo ich gegen die Wand renne. Kurskorrektur, langsam. Es war die Hainbuche vor 2 Monaten: sie hat mich angestupst und auf mein Herz gedeutet: „Gib’s doch endlich zu: es flattert!“

Ich habe mit einer Freundin gesprochen, die im letzten halben Jahr die Liebe entdeckt hat. Bei mir ist es schon ein bisschen länger her, aber wir sind jetzt beide „Eingeweihte“. Was für ein Schatz, wenn man diese Fähigkeit in sich entdeckt! Sie wird zwar durch die Magie zwischen zwei Menschen wachgeküsst, aber dann ist es eigentlich völlig gleichgültig, woher die Liebe kommt – sie ist einfach da, bedingungslos, zweckentfremdet und vollkommen frei, sich auszubreiten. Und genau das macht sie auch. Und je mehr sie es tut, desto mehr kann man das eigene Streben, Sehnen und Wollen zur Seite legen und die Dinge ziehen lassen. Man hat plötzlich die Fähigkeit, die Liebe zu erzeugen und das ist wie Radfahren – einmal gelernt, nie wieder verlernt.
Also: ich habe den aufrichtigen Wunsch, diesen Mann lieben zu lernen. Möglichst ohne zu drücken und zu wollen. Ich weiß noch, dass ich’s kann, das mit dem Lieben. Ich komme der Sache näher: mit jedem So-Muss-Es-Sein, das ich gehen lasse und jedem Ich-Habe-Kontrolle, das mir den Buckel runterrutscht. Sogar die Tatsache, dass es mir die meiste Zeit schon herrlich wurscht ist, ob „das was wird“, erfüllt mich mit einem zufriedenen Glucksen. Ich stehe sicher.

Es ist mir jetzt ganz wichtig, mich gedanklich und körperlich immer wieder bewusst von ihm abzutrennen. Es ist eine Disziplin, der ich gerne folge, weil ich konzentriert bleiben möchte und diesen Weg auch weiterhin gehen will. Meine Aufmerksamkeit gehört zuallererst unter meine Haut, und das finde ich nicht einmal egoistisch. Mir ist es auch lieber, dass er sich auf seine Arbeit konzentriert, statt beim Gedanken an meinen Popo einen Computer vollkommen verkehrt herum aufzusetzen, oder Ähnliches. Ich entdecke ganz erstaunt, dass es möglich sein kann, mit einem Menschen zusammen zu sein und zugleich allein sein zu dürfen.

Im zur Zeit leeren Haus lerne ich, mit Stille umzugehen. Ich stelle mich ihr - mache Yoga im Garten, koche in aller Seelenruhe, esse langsam (und nicht vor dem Fernseher). Höre Schumann, lese ein Buch. Überlege mir schöne Übungsreihen für meinen Rücken und meine Muskeln. Alles nacheinander, mit Ruhe. Plötzlich gibt es so viel Raum und zugleich so viel "Nichts", das mir manchmal auch Angst macht. Aber dafür gelten meine Gesetze, meine Zeiteinteilung, mein Hunger, mein Durst. Ich lerne, der Bestie Stille in die Augen zu sehen und ihr zuzuhören.

Ich merke, wie ich mich wieder daran gewöhnen muss, still zu sein und auch niemandem mehr zuhören zu müssen. Das Unileben hinterlässt seine Spuren! Ich übe, immer wieder in den Raum zurück zu kommen, in dem ich unbeobachtet Atempuls und Herzschlag folge, sonst nichts. Ich bin amüsiert darüber, wie sehr ich mein Innenleben zugemüllt habe mit Menschen, an die ich denke, Termine an die ich denke, Prüfungen, die zu bestehen sind, Sorgen, Erwartungen, Rachegelüsten, Freudentaumeln, Besessenheiten. Manchmal lebe, denke und atme ich für all diese Personen, Ereignisse und Ideen um mich herum mit. Ich habe ihre tausend Augen auf mir, während ich auf der Matte den Helden mache. Sie essen von dem Sugo mit, das ich mir koche. Ich lasse mich von ihnen wegschwemmen an Trauminseln, oder in Sandschlösser, Wolkenpaläste… Es macht großen Spaß, immer wieder das Lasso auszuwerfen und mich samt meiner Aufmerksamkeit zurück in den Körper zu ziehen – auch wenn manchmal ich das Gefühl habe, einen großen Felsen einen steilen Hang hinauf zu stemmen…

Sonntag, 23. Juli 2006

Menschen, die die Welt verbessern


Heute Nachmittag habe ich eine wunderbare Reportage auf Arte gesehen.
Seit Jahrzehnten nimmt Senhor Joaquim auf seiner Farm Straßenkinder auf, um sie zu Reitern auszubilden. Joaquim hat an die 10 leiblichen Kinder, über 100 Jungen hat er bis jetzt schon auf seiner Farm aufgenommen und ausgebildet.
Der Film begleitet Luam, einen Neuankömmling. Er ist in einer Favela aufgewachsen und hat anfangs Schwierigkeiten, sich anders als mit den Fäusten auszudrücken. Beeindruckend fand ich das große Mitgefühl und die Geduld mit denen Senhor Joaquim und seine Frau Terezinha „ihre“ Kinder erziehen. Man sieht den beiden an, dass ihnen jedes Kind auf dieser Farm wichtig ist und dass sie jedes als Teil der Familie behandeln. Aus den Worten und Gesten dieser zwei alten Leute spricht immer eine große Zuversicht, dass der Kern jedes Kindes gut und ganz ist und tatsächlich gelingt es ihnen, diesen Kern behutsam ans Licht zu bringen. Der kleine Luam lernt in knapp 2 Wochen reiten und kann an der großen Parade teilnehmen.
Als erstes schenkt Senhor Joaquim jedem Neuankömmling sein eigenes Pferd. Die Kinder sollen lernen, ihr Tier ohne Schläge, nur mit Geduld und Liebe zu erziehen. Die Kinder gehen vormittags die Kühe melken, denn die Menschen auf der Farm leben vom Milchverkauf. Nachmittags gehen sie in die Schule, die Senhor Joaquim auf der Farm eingerichtet hat. Ein Lehrer unterrichtet die etwa 25 Mädchen und Buben, also 4 verschiedene Klassen, gleichzeitig.

Hier gehts zum Making Of der Reportage.

Freitag, 21. Juli 2006

Eingekocht


Balthasar van der Ast, ~1630

Ich blühe auf – es ist Sommer und alle kommen zurück in die Stadt!
Ich habe keine besonders ausgeprägten Mutterinstinkte, aber sie erwachen, wenn ich meine Freunde bekochen kann.Es gibt wohl nichts Schöneres, voller Vorfreude einen ganzen Vormittag lang auf dem Markt herumzuspazieren und dabei die Nase ins Gemüse zu stecken, ein paar Beeren zu stibitzen, ein Stück vom Brot zu kosten... Im Hinterkopf immer die Freunde, ihr Wesen, was man an ihnen mag, welches Essen zu ihnen passen könnte...

Abraham van Beyeren, 1653

Dann kocht man zu 6, 7 oder 8 in der Küche, macht sich vor Lachen fast in die Hose und weint dabei, weil der Zwiebel brennt.Witze werden erzählt, einer liest Geschichten vor, eine tanzt um den Küchentisch, man gibt Würz-Vorschläge, veranstaltet ein Gemüseschnellschneiden... Alles löst sich, entspannt sich, man sieht sich lachend in die Augen und fühlt sich aufgehoben. Jeder gibt seinen Teil dazu, schnipselt seine ganz persönliche Note in dieses Essen. Die liebevolle Gelassenheit solcher Augenblicke, Freude und Freundschaft werden in die Töpfe gegeben, zusammengemischt und verarbeitet zu etwas, das viel mehr wird, als nur Essen.


Edward Fisk

Alle sind neugierig, was sich da unter ihren Händen, auf Schneidbrettern, in Schüsseln, Töpfen und Pfannen zusammenbraut. Die erste Flasche Wein wird geöffnet, während man das Essen auf dem Herd den Naturgesetzen überlässt. Weihevolle Stille breitet sich aus, alle nippen an ihren Gläsern und sehen den duftenden Schwaden zu, die von der Küche aus durchs ganze Haus schweben.
Decken und Gläser werden in den Garten getragen, Teller vorgewärmt und endlich gefüllt.


Manfred J. Jürgens, 2006

Dann endlich sind alle eingerichtet, die dampfenden Teller vor sich. Ich sitze da, den Wein in der Hand, gebannt die Gesichter der anderen betrachtend. Und dann – Entspannung. Glückliche Gesichter. Lachen. Leben. Leichtigkeit. Das nenne ich Essen!

Sonntag, 16. Juli 2006

Betreten verboten!

Die Haselnuss ist ein Pionier. Sie bereitet den Boden für andere Pflanzen vor und erobert ihnen so neue Lebensräume. Abgesehen davon, dass ihr Holz von Kindern gerne zu Pfeil und Bogen verarbeitet wird (und von den Erwachsenen zu Wünschelruten), bringt die Hasel auch noch ganz andere Kunststücke fertig.
Vor einiger Zeit bin ich diesem Baum/Strauch das erste Mal ganz bewusst begegnet. Es war eigentlich ein kurzes Verharren auf dem Spaziergang. Ich war überrascht, als mir abends völlig neue Gedanken durch den Kopf gegangen sind. Plötzlich habe ich ein Gefühl in mir geortet, das ich so noch nicht kannte. Ich nehme an, dass ich diese Ideen schon länger ausgebrütet habe, aber irgendwie gibt es mir doch zu denken, dass sie aus mir genau dann herausbrechen, wenn ich mich mit der Freidenkerin Haselnuss beschäftige:


Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, wirklich allein sein zu WOLLEN. Diese zeitweise etwas kranke Sehnsucht nach einem Mann ist fast ganz aus mir gewichen, dafür ist Ruhe eingekehrt. Das ist völlig neu für mich. Ich möchte nur für mich selbst zugänglich sein - ich möchte meinen Körper für mich alleine haben. Ich will mich, mein Denken, Fühlen und meinen Körper niemandem eröffnen müssen, ich will mich nicht mehr erklären.

Ein Begriff beschäftigt mich: „Keuschheit“. Ich entdecke das ungemein Positive in diesem Wort, das fern von jungfräulicher Empfängnis und missverstandener Demut eine emanzipierte Reinheit beschreibt. Ich will keusch sein, das heißt konzentriert. Unberührt im Sinne von Erde, in der die Blumensamen noch schlafen. Niemand darf darüber trampeln. Ich will meine Zeit und Kraft nicht damit verschwenden, einen Menschen so über diese Erde zu lotsen, dass er möglichst wenig Schaden anrichtet. Ich will mich nicht ablenken lassen von irgendetwas, solange diese neue Pflanze wächst. Ich lege eine Absperrung um meinen Körper, um meine Gedanken. Betreten verboten! Mh, das tut gut!


Wenigstens gibt es ein großes Geheimnis, das niemand außer mir kennt und das bin ich. In meinem Körper entwickeln sich gerade neue Sinne, neue Antennen. Ich will nicht sagen, dass ich Pech hatte mit meinen bisherigen Liebhabern. Es war toll. Aber jetzt: alles verändert sich. Ich lerne mich neu kennen. So fein und durchlässig war ich noch nie, ich fühle mich wie gesponnen. Und ich ahne, dass eine Erkenntnis aus der kommenden Zeit sein wird, dass ich weiß was ich will ohne wissen zu müssen, was genau das ist. Jetzt weiß ich natürlich, wie ich funktioniere: mein Körper reagiert so und so. Klick, klack, peng. So will ich nicht sein müssen. Ich trage die Vorstellung in mir, zu sein wie eine Landschaft, die erwandert werden will und zwar im Tempo des Wanderers. Ich will mich eröffnen im Zuge seines Weges und nicht von vorneherein die schönsten Ecken und Winkel verraten. Das meine ich nicht ausschließlich im sexuellen Sinn, sondern auf jeder denkbaren Ebene. Da greift ja alles ineinander.

Es ärgert mich, wenn ich in Frauenzeitschriften lese, dass eine Frau sagen muss, was sie will. Jaja, das stimmt ja schon, irgendwie. Schaden kann es nicht, sich selbst zu kennen. Aber muss ich deswegen mit der Sprache rausrücken? Ich finde nicht, dass eine Frau einem Liebhaber alle Tricks und Kniffe verraten muss, wenn sie das Gefühl hat, dass sie sich selbst damit verrät. Ein fantastisches Rezept macht noch keinen Meisterkoch, um das Ganze in eine kulinarische Metapher zu verpacken. Das gilt natürlich auch umgekehrt. Und außerdem hat jeder gute Koch, jede hervorragende Köchin, eine ganz eigene, womöglich geheime Zutat. Ich träume davon, dass alle Liebenden, Freunde, Familien einander die Chance geben, selbst aus den Zutaten des anderen etwas zu kreieren, statt von vorneherein zu erklären, was wie wann und in welchen Mengen gemischt werden muss.


Ich will keinem Menschen sagen müssen, welche Knöpfe gedrückt werden sollen. Ich wünsche mir, dass er selbst welche findet, neue, unbekannte, die nur dieser eine Mensch betätigen kann. Und wenn es der zweite Zeh oder der Haaransatz hinterm Ohr ist. Oder ein bestimmtes Wort, ein Blick, eine Geste… Auf dem menschlichen Körper und in einer Seele gibt’s Platz genug für eine Milliarde Knöpfe.

So eine Einstellung braucht Selbstbewusstsein und noch mehr Mut, als ich bis jetzt habe. Es ist meine Idealvorstellung und ich weiß, dass es bis zu ihrer Verwirklichung noch ein langer Weg ist. In der Zwischenzeit mache ich die Türen zu, bleibe für mich. Ich sehe den neuen Zellen beim Wachsen zu, fühle mich frisch, jung, rein. Ich ernähre meinen Körper mit Yoga, mit Tanz, mit gutem Essen. Ich verwende immer häufiger ganz andere Augen: ich sehe, in was für einem fantastischen Körper ich wohnen darf. Wie gut er mich schützt, wie stark und beweglich er ist, dass er mir so viel verzeiht, ist ein Wunder, das mich zum Lachen bringt. Manchmal zeigt mein Körper Angst vor Grobheit, vor Bewertung und Besitzansprüchen. Ich fühle seine Dankbarkeit für jedes Bisschen aufmerksamer Zuwendung, für jeden liebevollen Gedanken, für meine Hingabe. Ich fühle, dass er immer ganzer wird, sich mehr und mehr vernetzt. Ich gehe in meinem Körper neue Wege, erkunde neue Ideen – lerne von der Hasel.

Senryu I

Monet, Pappeln am Ufer der Epte, 1891

Kreuzung am Sonntag
Abendlicher Scherenschnitt
von vier schlanken Pappeln.

Donnerstag, 13. Juli 2006

Der Wald aus lauter Bäumen



Stadtkinder in freier Wildbahn haben's schwer!
Im Februar hatte ich die Aufgabe, mich mit Erlen auseinander zu setzen. Keine leichte Übung, im tiefsten Winter so einen Baum zu finden! Erlen haben erstens kleine purpurne Kätzchen, außerdem kleine Zapfen und wachsen zweitens (zumindest bei uns) nicht wirklich als Baum, sondern haben mit Büschen Ähnlichkeit - so wie die Haselnuss. Die wiederum blüht praktischerweise fast zur selben Zeit wie die Erle, hat zwar gelbe Kätzchen - aber ich Stadtkind habe eine Weile gebraucht, um diesen feinen Unterschied zu begreifen. Ich kann mich also erinnern, einen guten Teil des Winters unter einem Baum verbracht zu haben, von dem ich nur vermuten konnte, er sei eine Erle. Der Zweifel hat an mir genagt!




Jetzt war ich wieder im Wald, in dem ich einen guten Teil des Winters und des Früh-Frühlings verbracht habe. Er ist jetzt wunderbar dicht und grün. Und der Baum, unter dem ich damals saß, hat jetzt das unverkennbare Blätterkleid einer Erle. Erleichterung!
Überhaupt hätte ich nie erwartet, dass das Wissen über die einen umgebende Natur einen Menschen derartig zufrieden machen kann. Mittlerweile kann ich durch einen Wald gehen und den Großteil der Bäume auseinanderhalten. Das habe ich unter anderem dem schönen Buch von Susanne Fischer-Rizzi zu verdanken, Blätter von Bäumen.
Anfangs war meine Aufgabe entmutigend - sich mit Bäumen auseinandersetzen, sie unterscheiden und kennen lernen ist keine leichte Sache, wenn man anfangs mit Müh und Not eine Fichte von einer Tanne unterscheiden kann und wenn es noch dazu Winter ist.

Das erste Mal, als mir gedämmert ist, dass Bäume so etwas wie einen Charakter, eine ganz enorme Ausstrahlung haben, war letzten Sommer. Ich war in Kärnten, am Ossiachersee. Ich bin mit meinem damaligen Freund im Wald spazieren gegangen. An einer Stelle ging der Weg bergauf, Büsche und Krautwerk verdeckten die Sicht. Mir fielen die vielen, leuchtend schönen Blätter auf dem feuchten Boden auf und eine gewisse erwartungsvolle Spannung lag in der Luft. Hinter der Steigung erwartete uns ein mächtiger Baum, der seine Äste in alle Richtungen über den Weg streckte. Der Anblick war tatsächlich atem-beraubend. Ich hatte damals noch keine Ahnung von Bäumen, wusste auch nicht, dass es eine Buche war. Ich fühlte mich einfach nur zu diesem Baum hingezogen, kam näher, legte eine Hand auf seinen Stamm. Über meinen Fingern waren zwei Runen eingeritzt, ganz deutlich. Mond und Sichel. Über dem See ging gerade der zunehmende Mond auf. Und es hat klick gemacht...
Mir ist es gar nicht so wichtig, einem Baum seinen richtigen Namen geben zu können. Ich will nicht klassifizieren, einordnen, abhaken. Ich will bewusst vor einem Baum stehen und wissen, was unsere Vorfahren mit ihm verbunden haben. Welche Geschichten und Mythen sich um die Bäume ranken, welche Medizin in ihnen steckt. Dann habe ich ganz einfach das Gefühl, einem ganz lebendigen, denkenden, fühlenden Wesen gegenüber zu stehen. Ich finde es immer wichtig, zu wissen, woher man kommt. Und es ist ganz erstaunlich, wie sehr die Landschaft das ererbte Wissen der dort lebenden Menschen prägt, ohne dass sie es je vermuten würden.

Viele der Bäume, mit denen ich mich bis jetzt etwas näher beschäftigt habe, haben mir ihren Charakter ein Stück weit offenbart. Ein Baum-Charakter äußert sich ja nicht in einer Stimme (wie bei Baumbart, dem grummeligen Ent...). Er ist viel mehr die Stimmung, die um einen Baum herrscht, die Vögel, die in ihm singen, die Wolken, die Gedanken und Träumereien, die man unter diesem speziellen Baum hat. Eine Sorge oder ein Problem muss ich nur eine Weile unter einen Baum legen, um sie zu verwandeln. Bäume sind mir Freunde geworden und ich kenne einen für (fast) jede Lebenslage.

Es gibt auch viele "traurige" Bäume. Ich habe einmal in Paris in einem kleinen Park einen Baum getroffen, in dessen Umgebung mir ganz eng ums Herz wurde. Das war ebenfalls bevor ich mich mit Bäumen zu beschäftigen begonnen habe. Dieser Baum wirkte auf mich wie ein kleines Kind, das verloren in der Gegend steht, das umarmt werden möchte. Dabei stand er mitten in diesem Park, umgeben von Bänken. Ich habe mein Gefühl nicht weiter beachtet, bis mir meine Bekannte später erzählt hat, dass an diesem Platz früher viel mehr Bäume waren und ein Kinderspielplatz. Ich glaube, dieser Baum hat seine Artgenossen vermisst und den Kinderlärm...

Und zum Schluss: dieses Etwas hat sich auf dem Waldweg verlaufen. Wollte dann partout auf meine Hand klettern, weil die so schön warm war. Hab es wieder ins Kraut gesetzt. Hoffe, es wurde noch nicht verspeist.

Dienstag, 11. Juli 2006

Erstes Mal mit Robert

Die Nacht und den heutigen Tag habe ich also mit Robert verbracht. Ich habe im Plattengeschäft zwischen Kammermusik und Symphonien gezögert. Habe mir dann gedacht, dass ich nicht immer das kaufen sollte, wovon ich sowieso schon weiß, dass ich es mag – also sind es die Symphonien geworden. Böse Menschen behaupten ja, die wären nicht so toll. Aber Hr. Gardiner und seine Leute zeichnen ein ganz anderes Bild...


Lieber Robert,

wir zwei wären schon ein seltsames Paar… wären deine Symphonien ein Nachmittag, in dem wir gemeinsam spazieren gehen würden, ergäbe das folgendes Bild:
Grundsätzlich wäre die Szenerie in flirrendes Spätaugust-Licht getaucht, mit ein bisschen Wind, Vogelsang, kurz gesagt mit der nötigen Romantik bepackt, die wir zwei empfindsamen Seelen so dringend brauchen.
Du schreitest also voran, immer gerade voraus, mit diesem Kinn, das ich so mag. Du streifst durchs Gras, bleibst hin und wieder vor einem besonders schönen Baum stehen – vollkommen überwältigt von der offensichtlichen Schönheit dieser Welt schüttelst du ein paar besonders berührend dichte Bläserpassagen aus dem Ärmel und als ich dazukomme, um mir deine Seelenregung ein bisschen näher anzusehen, siehst du mir nur ganz kurz in die Augen und bist auch schon weiter spazierst. Schnell wirfst du die Musik in die Höhe, einem aufgeregten Vogel nach.
Ich stehe blöd da. Hätte mir erhofft, dass du ein bisschen länger im Sonnenlicht dahinträumst. Hm. Ich habe keine Lust, mit dem Schwelgen schon wieder aufzuhören, muss dir aber wohl oder übel hinterher. Und kaum bin ich um die Ecke gebogen, sehe ich dich, über einen toten Schmetterling gebeugt, die unausweichliche Vergänglichkeit aller Dinge beweinen. Mit dem gesamten Orchester versinkst du in den tiefsten Weltschmerz. Ich muss ein schlechter Mensch sein, denke ich mir, weil ich nichts mehr liebe, als wenn du die Welt durch einen Tränenschleier betrachtest und sie trotzdem noch immer ganz offensichtlich schön findest. Aber du willst einfach nicht in dieser tieftraurigen Stimmung bleiben.
Und so geht das den ganzen Nachmittag, du voran, ich hinterher, du von Grashalm zu Baum zu Schmetterling zu Kiesel zu Vogelnest zu Wegrand und Glockenturm, zeigst mir die ganze Welt und ich immer dir nach. Wünsche mir sehnlich, du würdest einmal nur stehen bleiben, verschnaufen und genau dort bleiben wo du bist. Ich glaube, du hast diese Symphonien nur geschrieben, um mich zu ärgern. Hältst mir einen tollen Bissen vor die Nase und lockst mich damit durch eine halbe Stunde Musik und wenn ich glaube, ich hab ihn – ist es aus.